Eine Frage der Bildungsgerechtigkeit – Wie werden in NRW langzeiterkrankte Schüler:innen beschult?
Derzeit begleitet unsere Kanzlei Familien langzeiterkrankter Kinder (LongCovid/ME-CFS) bei der Durchsetzung ihres Bildungs- und Teilhabeanspruchs. Im Rahmen dieser intensiven Begleitung haben sich rechtliche Grundsatzfragen eröffnet, die nicht nur die Familien und Schulen, sondern auch die Bezirksregierungen, das Schulministerium und den Petitionsausschuss des Landtags beschäftigen.
Kern des Problems ist die Symptomatik der erkrankten Schüler:innen. Diese sind zumeist nicht mehr langfristig in der Lage, den Präsenzunterricht zu besuchen. Gleichzeitig ist zumeist ein relevantes Maß an Leistungsfähigkeit weiter vorhanden; insbesondere wenn die Rahmenbedingungen stimmen, sind die Schüler:innen zumeist in der Lage, ein gewisses Maß an schulischen Leistungen zu erbringen. Hier muss stets mit Bedacht, Augenmaß und enger Abstimmung mit den behandelnden Ärzt:innen vorgegangen werden. Dennoch ist bei vielen Schüler:innen der Wunsch groß, nach ihren Möglichkeiten weiterbeschult zu werden und die schulische Karriere fortzusetzen… Dies gestaltet sich in vielen Fällen aufgrund der mangelnden Kooperation der Schulen und/oder Behörden aktuell schwierig.
Obwohl das Schulgesetz für den Fall längerfristiger Erkrankungen „Lösungen“ vorsieht, stehen unter Anwendung der Auffassung der Schulbehörden keine befriedigenden Handlungsoptionen. Dies gilt insbesondere für Schüler:innen, deren Gesundheitszustand starken Schwankungen unterliegt und damit nur eine unregelmäßig geringe oder gar keine Teilnahme am Präsenzunterricht möglich ist. Gleichzeitig ist womöglich auch kein mittelfristiger Therapierfolg zu erwarten, weshalb die Frage der Weiterbeschulung von immenser Bedeutung ist.
Aus Sicht des Ministeriums und der Bezirksregierung verbleibt in diesen Fällen allein die Option, die Schulkarriere auf Eis zu legen und durch Verlängerungen der Höchstverweildauer nach einer ungewissen, künftigen Genesung die Beschulung fortzusetzen. Alternativ könne das öffentliche Bildungssystem verlassen werden und Schulabschlüsse könnten im Wege der Externenprüfung nachgeholt werden…
– Ein Mitnehmen, Unterstützen und Chancen-Eröffnen für die Schüler:innen unter Beachtung der individuellen Leistungsfähigkeit und unter Ausnutzung aller rechtlichen, technischen und pädagogischen Möglichkeiten sieht unserer Auffassung nach anders aus:
Bereits heute bietet das Schulgesetz flexible Möglichkeiten, in der komplexen Situation langzeiterkrankter Schüler:innen eine Beschulungsmöglichkeit zu schaffen. Hierzu stehen Maßnahmen des Nachteilsausgleichs, Hausunterricht, Feststellungsprüfungen, freiwillige Leistungsstanderhebungen und der Einsatz technischer Hilfsmittel zur Verfügung. Aus diesem Maßnahmenpool kann und muss eine einzelfallgerechte Beschulungssituation geschaffen werden, die eine echte Teilhabe am schulischen Leben ermöglicht.
Gerade der Einsatz von Avataren oder Telepräsenzrobotern stellt hier eine flexible und damit besonders geeignete Möglichkeit dar, um eine soziale Partizipation am schulischen Geschehen, aber auch eine bewertbare Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen.
Derzeit legen die zuständigen Behörden (allen voran das Schulministerium) in NRW das Schulgesetz allerdings so aus, dass der Einsatz eines Avatares/Telepräsenzroboters keine vergleichbare Leistung darstellt und dieser somit nicht zur Erbringung schulischer Leistungen herangezogen werden könne. Die Praxis beweist hier das Gegenteil. In anderen europäischen Ländern -dies sind wir mittlerweile besonders im schulischen Kontext gewohnt- ist man schon weiter; aber selbst in anderen Bundesländern breitet sich der Einsatz von Avataren aus.
In einem höchst relevanten Punkt gehen die Behörden noch weiter und führten aus, dass durch ein langfristiges Fernbleiben vom Präsenzunterricht z.B. das Abitur nicht erreicht werden könne. Hierzu sei es zwingend erforderlich, dass man regelmäßig am Präsenzunterricht teilnehme. Haus- oder Distanzunterricht sei hierzu nicht geeignet und damit nicht ausreichend. Allein der Präsenzbesuch führe zum gewünschten Schulabschluss.
Diese Rechtsauslegung ist ein harter Schlag für Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit langzeiterkrankten Schüler:innen, die unverschuldet durch Krankheit aus ihrem bisherigen Leben und Alltag gerissen wurden. Zwangsläufig drängt sich eine gesamtgesellschaftliche Grundsatzfrage auf:
Wie wollen wir in NRW langzeiterkrankten Schüler:innen beschulen, um diesen echte Teilhabe und Bildungschancen zu ermöglichen?
Wir plädieren hier, unterstützt durch die Rechtsauffassung des Petitionsausschusses des Landtags, für die Schaffung einer flexiblen und einzelfallgerechten Beschulungssituation.
Hierfür setzen wir uns ein.
Bei Unterstützungsbedarf nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf.