Generell gilt in Deutschland im Rahmen der Schulpflicht eine verpflichtende Teilnahme am Präsenzunterricht. Die Regelungen während der Corona-Krise sind allerdings in den Bundesländern unterschiedlich. Beispielsweise in Baden-Württemberg ist es Eltern aktuell freigestellt, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Der Schulpflicht muss dann durch Home-Schooling nachgekommen werden.  In NRW sieht die aktuelle Coronabetreuungsverordnung explizit keine Befreiung vom Präsenzunterricht vor. Gesetzlich geregelt sind Freistellungen durch den Erlass des Schulministeriums vom 29.05.2015. Hier werden wichtige Gründe genannt, aus denen Schulleitungen Schüler vom Unterricht und sonstigen Schulveranstaltungen befreien können, diese sind allerdings zumeist befristet. In dem Konzept des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 3.08.2020 „zur Wiederaufnahme des angepasster Schulbetrieb in Corona-Zeiten zu Beginn des Schuljahres 2020/2021“ heißt es, dass die Nichtteilnahme von Schülerinnen und Schülern am Präsenzunterricht zum Schutz ihrer Angehörigen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen und nur vorübergehend in Betracht komme. Die Entscheidung darüber liegt im Ermessen der Schulleitung. Unabhängig von der Frage, in wie fern dieses Konzept rechtliche Relevanz hat – die in ihm aufgenommenen Punkte sind kein Bestandteil der aktuellen Coronabetreuungsverordnung – gibt es derzeit keine rechtlichen Vorgaben, die den langfristigen Schutz Angehöriger von Risikogruppen regelt. Da aber nunmehr offensichtlich ist, dass das Corona-Virus noch über längere Zeit unser Leben beeinflussen wird, ist der Gesetzgeber gefragt sowohl für Betroffene von Risikogruppen als auch für Schulleitungen eine langfristige Lösung zu finden.

Abzuwägen ist in diesem Fall das Recht auf körperliche Unversehrtheit gegen das Recht auf Bildung beziehungsweise die Verantwortung für die Einhaltung der Schulpflicht durch die Schulen.

 

Rechtliche Möglichkeiten

Lehnt eine Schulleitung den ersten Antrag oder auch nach Ablauf der Freistellung einen weiteren Antrag ab, kann der Antragsteller dagegen Widerspruch (je nach Landesrecht) einlegen.  Wird diesem nicht stattgegeben, können Antragsteller im nächsten Schritt Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht einreichen. Handelt es sich um eine Angelegenheit, bei der eine schnelle Entscheidung erforderlich ist – wie bei Anträgen auf Freistellungen vom Präsenzunterricht – sollte zusätzlich beim Verwaltungsgericht ein Antrag im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes (Eilverfahren) gestellt werden. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, die Gesetzeslage durch einen Normenkontrollantrag (gegebenenfalls in Verbindung mit einem Eilverfahren) bei dem zuständigen Oberverwaltungsgericht überprüfen zu lassen. Dieses entscheidet, ob die Regelung des Gesetz-, bzw. Verordnungsgebers mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Es würde dann also beispielsweise abwägen, ob in dem Fall des Antragsstellers das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht auf Bildung Vorrang hat.

 

Bisherige Gerichtsentscheidungen

Bisher gibt es zu diesem Thema nur sehr wenige Entscheidungen, was damit zusammenhängen könnte, dass für die erste Zeit nach den Wiederöffnungen der Schulen vorübergehende Lösungen mit den Schulleitungen gefunden wurden.

Interessant sein dürfte eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 15.05.2020 (Az.: 3 L 245/20 – und 3 L 247/20). Nachdem in Sachsen die Wiedereröffnung der Grundschulen im Präsenzunterricht erfolgen sollte, klagten die Eltern von zwei Grundschulkindern dagegen. Sie hatten unter anderem vorgetragen, es sei nicht nachzuvollziehen, aus welchen Gründen bei Schülern der Primarstufe der Grund- und Förderschulen im Gegensatz zu älteren Schülern während des Unterrichts die Einhaltung eines Mindestabstands von eineinhalb Metern nicht als zwingend einzuhaltende Voraussetzung für die Wiedereröffnung des Schulbetriebs vorgesehen ist. Das hierdurch bedingte erhöhte Infektionsrisiko für die Schüler der unteren Klassenstufen sei angesichts der von einer Infektion ausgehenden erheblichen Gesundheitsgefährdung unter Zugrundelegung des derzeitigen wissenschaftlichen und epidemiologischen Kenntnisstandes weder nachvollziehbar noch angebracht und damit rechtswidrig.

Das Gericht hat den Anträgen stattgegeben. Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt:
„Die in Ziffer 3.5.2. Satz 2 der Allgemeinverfügung zur Regelung des Betriebes von Einrichtungen der Kindertagesbetreuung und von Schulen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der SARS-CoV-2-Pandemie des Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt vom 12. Mai 2020, Pe.: 15-5422/4, getroffene Regelung, nach der die Einhaltung eines Mindestabstands von eineinhalb Metern bei Schülern der Primarstufe der Grund- und Förderschulen während des Unterrichts im Klassenraum nicht erforderlich ist, verstößt gegen die aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates i. V. m. dem Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG und verletzt den Antragsteller in seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG und auf Gleichbehandlung gem. Art. 3 Abs. 1 GG.

In diesem Fall wurde also die Aufhebung des Mindestabstands als Verletzung auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit angesehen und über das Recht auf Bildung gestellt.

In Niedersachsen haben zwei Schüler gegen die dortige Verwaltungsvorschrift geklagt, nach der nur Schülerinnen und Schüler mit vorerkrankten Angehörigen von der Präsenzpflicht am Unterricht befreit werden können, wenn ein Corona-Fall an der Schule vorliegt. Das Gericht wies die Klage ab, da es die Auffassung vertrat, dass durch die zu SARS-CoV-2 ergriffenen Schutzvorkehrungen die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und Bildung ausgeglichen abgewogen sein. Ferner gebe es keinen Anspruch darauf, von jeglichem Restrisiko verschont zu bleiben. Das Verwaltungsgericht Brandenburg soll ebenfalls eine Klage bezüglich der Gewährung von Distanzunterricht abgelehnt haben.

 

Aussichten

Auch wenn die bisherigen Gerichtsentscheidungen eher eine negative Tendenz vermuten lassen, ist zu beachten, dass aus einigen Bundesländern noch keine Entscheidungen zur Freistellung vom Präsenzunterricht vorliegen. Es gibt bisher keine grundsätzliche Entscheidung, sondern es ist stets der Einzelfall zu betrachten. Abhängig von der aktuellen Infektionslage sind die Gerichte verpflichtet, Grundrechte stets aufs Neue abzuwägen und zu prüfen, ob Maßnahmen verhältnismäßig sind.  Neben der aktuellen Infektionslage (also die Bedrohung des gefährdeten Rechtsgutes) ist das jeweilige Hygienekonzept zum Schutze der körperlichen Unversehrtheit im Einzelfall zu beurteilen. Ferner können bei der Abwägung auch persönliche Umstände Berücksichtigung finden, zum Beispiel der Grad der Schwere einer Vorerkrankung, räumliche Situation im gemeinsamen Haushalt oder Alter der Schülerinnen und Schüler.